Der Brüder-Grimm-Platz in historischen Fotografien von G. F. Leonhardt

In Kassel findet seit längerem eine intensive Auseinandersetzung um eine geplante Umgestaltung des Brüder-Grimm-Platzes statt. Dem ist vor Jahr und Tag voraus gegangen die Bewilligung von 6 Millionen Euro Fördermitteln des Bundes für die Gestaltung dieses zentralen Platzes als Schnittstelle zwischen Innenstadt, Weinberg und Wilhelmshöher Allee. Hintergrund ist, dass mit dem Umzug des Verwaltungsgerichtshofes in die Goethestraße Raum entstanden ist für einen Neubau des Deutschen Tapetenmuseums. Dazu hatte es einen Architektenwettbewerb gegeben. Der Siegerentwurf soll realisiert werden und ist räumlich an das nördliche Torhaus angrenzend positioniert. Der Neubau wird ein prägendes Gebäude für den Brüder-Grimm-Platz – vis à vis zum Hessischen Landesmuseum auf der Weinbergseite.

Die kontrovers und leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung geht um den Siegerentwurf eines Architektenwettbewerbs, ausgelobt zur Gestaltung bzw. Umgestaltung des Brüder-Grimm-Platzes. Dieser Entwurf sieht als prägendes Merkmal für den umgestalteten Brüder-Grimm-Platz die Anlage eines kleinen Kiefernwaldes in Zentrum des Platzes vor. Die Vorstellung des von einer Jury prämierten Entwurfes in der Öffentlichkeit löste eine starke und anhaltende Woge widersprechender Leserbriefe und Stellungnahmen aus. Die Anlage eines künstlichen Kiefernwaldes wurde von der Bürgerschaft in seltener Einmütigkeit abgelehnt.

Kontroverse Ansichten zum „Märchenwald“ am Brüder-Grimm-Platz

Die Kontroverse findet inzwischen publizistischen Niederschlag weit über Kassel hinaus. „Märchenhaft – oder einfach Kitsch“ titelte die Süddeutsche Zeitung in einem Bericht. Damit steht in Kassel nach kontroversen Diskussionen um die Zukunft der Markthalle, die von Privatinvestoren nachhaltig umgestaltet werden soll, und nach einer erratischen Debatte um die – gemäß des Willens der Stadt Kassel – gescheiterte Planung zum Standort für den Neubau des documenta-Instituts angrenzend an den Karlsplatz eine dritte stadtbildprägende Maßnahme vor der Tür. Zur Gestaltung des Brüder-Grimm-Platzes gemäß ausgewähltem Architektenentwurf wurden zahlreich Widerspruch und Gegenreden vorgetragen.

Zur prägenden Bebauung des Brüder-Grimm-Platzes gehört das 1913 eingeweihte Hessische Landesmuseum, entworfen von Theodor Fischer. Die Fotografie von Leonhardt aus 1912 zeigt das fertig errichtete Gebäude aus Blickrichtung vom Brüder-Grimm-Platz. Die Aufnahme wurde im Winter beziehungsweise in der Zeit unbelaubter Bäume gemacht. Auffallend sind die zahlreichen recht großen Laubbäume, von denen das Museum dicht umstanden ist. Foto © Hartwig Bambey 2019

Leonhardt hat Fotografien von unterschiedlichen Aufnahmestandpunkten gemacht

Womöglich kann zu diesen Fragen und Ansichten ein Blick zurück andere und zusätzliche Sichtweisen vergegenwärtigen. Es könnten sich dabei Betrachtungen und vorgetragene Argumente der Diskussionen in Kassel bestätigen. Vom Fotografen Leonhardt sind Fotografien überliefert, die verschiedene Perspektiven zum oder vom Brüder-Grimm-Platz zeigen. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als diese Aufnahmen entstanden, hieß der Platz noch „Wilhelmshöher Tor“, bezugnehmend auf die beiden Torhäuser rechts und links als Abschluß der fünf Kilometer langen schnurgeraden Allee nach Wilhelmshöhe mit Blickbeziehung hinauf zum Herkulesbauwerk.

Diese Aufnahme zeigt die räumliche Situation auf der Südseite mit dem Landesmuseum im Hintergrund. Die zahlreichen Bäume sind belaubt. Es findet sich das Denkmal zur Einheit Deutschlands platziert. Dazu Passanten, spielende Kinder und eine Straßenbahn in Höhe der beiden Torhäuser. Augenfällig ist der weitgehende Baumbestand, der dem Platz als Randzone eines Parks erscheinen lässt. Heute finden sich nur wenige Bäume, schon gar nicht nahe zur Wilhelmshöher Allee. Foto © Hartwig Bambey 2019

Das bereits oben gezeigte Foto mit Blickrichtung zur Innenstadt veranschaulicht die städtebauliche Gelenkstelle, die der Brüder-Grimm-Platz für Kassel markiert. Dort endet die dicht bebaute Innenstadt. Dort öffnet sich die Stadt zur Landschaft mit dem Habichtswald als markanten Höhenzug. Verbindung schafft die Wilhelmshöher Allee via Straßenbahn. Dass dieser Bereich ausgeprägten urbanen Charakter birgt, veranschaulicht der Fotograf mit ebenso exakt wie kunstvoll platzierten Figuranten. Insbesondere die beiden parlierenden Herren mit Hut und Stock strahlen dabei Gelassenheit und zugleich gewisse Weltläufigkeit aus.

Aufnahme 1912 aus der Wilhelmshöher Allee zum Wilhelmshöher Tor mit dem nördlichen Torhaus, im Hintergrund das Rathaus. Das Foto wirkt wie eine zufällige Momentaufnahme mit einigen Passanten. Dass der Fotograf Leonhardt viele seiner Stadtfotografien präzise ausgestattet und aufgebaut hat, lässt sich in vielen seiner Bilder nachvollziehen. So kann auch für diese Aufnahme unterstellt werden, dass hier nichts dem Zufall überlassen wurde. Die fünf Hauptpersonen bewegen sich verteilt an für Bildaufbau und Wirkung entscheidenden Positionen. Das verleiht dem Bild  seine Ausgewogenheit und Anmutung von Alltäglichkeit. Zugleich wird der Platzcharakter als transitorische städtische Raumzone betont. Zentrales Motiv am Bildrand rechts sind die beiden Straßenbahnen. Diese 1912 datierte Fotografie zeigt, dass zur Eigenart des Platzes Bäume beitragen. © der Aufnahme Hartwig Bambey 2019.

Was bedeuten die historischen Fotografien in gestalterischer Hinsicht?

Laubbäume gehören zum Gepräge der städtebaulichen Situation als Schnittstelle von Oberer Königsstraße und Wilhelmshöher Allee. Diese funktionale und visuelle Gelenkstelle zwischen Innenstadt und Außenbereichen und Weinberg wurde wesentlich geprägt von Bäumen.

Die Aufnahme von der Weinbergseite aus dem Jahr 1890 war Vorlage für eine Ansichtskarte. Imposant die Säule mit vielarmigen Lampenkandelaber im Zentrum. Die Einheit der Gesamtgestaltung mit Straßenführungen, Bäumen und Zonierungen wird anschaulich. © 2019 Hartwig Bambey

Hauptmerkmal war gleichermaßen Weitläufigkeit und Einheit. Der Blick in die Obere Königsstraße und die unverstellte Sichtbeziehung aus der Oberen Königsstraße waren grundlegende städtebauliche Merkmale.

Entwurfszeichnung zur Umgestaltung des Brüder-Grimm-Platzes. © club L94 Landschaftsarchitekten aus Köln in Arbeitsgemeinschaft mit dem Büro RÖVER Ingenieursgesellschaft, Beratende Ingenieure VBI aus Gütersloh

Ob der doppelte Bruch des Entwurfs der Landschaftsarchitekten Club L94 – mit verdichteter Baumplatzierung im Zentrum statt verteilt an Randbereichen und mit Kiefern anstelle von Laubbäumen – eine adäquate und den Anliegen gemäße Lösung zur Platzumgestaltung leisten würde, kann als Frage bei Kenntnis der historischen Fotografien von G. F. Leonhardt erneut aufgeworfen werden. Bäume gehörten fraglos dazu am Brüder-Grimm-Platz.

Siegerentwurf im Gestaltungswettbewerb mit dem Kiefernhain in der Platzmitte. © club L94 Landschaftsarchitekten aus Köln in Arbeitsgemeinschaft mit dem Büro RÖVER Ingenieursgesellschaft, Beratende Ingenieure VBI aus Gütersloh

Sie waren als arrondierende organische Bestandteile in den Randbereichen platziert. Das lässt sie als organische Teile eines das Stadtbild prägenden Platzes zugehörig wirken. In dem Wettbewerbsentwurf will die Baumanpflanzung eine künstliche Insel schaffen, von der das Ensemble und die Einheit des Platzes zerteilt und aufgehoben wird.

—>Weiterlesen Bericht in das Marburger.