In Kassel findet seit längerem eine intensive Auseinandersetzung um eine geplante Umgestaltung des Brüder-Grimm-Platzes statt. Dem ist vor Jahr und Tag voraus gegangen die Bewilligung von 6 Millionen Euro Fördermitteln des Bundes für die Gestaltung dieses zentralen Platzes als Schnittstelle zwischen Innenstadt, Weinberg und Wilhelmshöher Allee. Hintergrund ist, dass mit dem Umzug des Verwaltungsgerichtshofes in die Goethestraße Raum entstanden ist für einen Neubau des Deutschen Tapetenmuseums. Dazu hatte es einen Architektenwettbewerb gegeben. Der Siegerentwurf soll realisiert werden und ist räumlich an das nördliche Torhaus angrenzend positioniert. Der Neubau wird ein prägendes Gebäude für den Brüder-Grimm-Platz – vis à vis zum Hessischen Landesmuseum auf der Weinbergseite.
Die kontrovers und leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung geht um den Siegerentwurf eines Architektenwettbewerbs, ausgelobt zur Gestaltung bzw. Umgestaltung des Brüder-Grimm-Platzes. Dieser Entwurf sieht als prägendes Merkmal für den umgestalteten Brüder-Grimm-Platz die Anlage eines kleinen Kiefernwaldes in Zentrum des Platzes vor. Die Vorstellung des von einer Jury prämierten Entwurfes in der Öffentlichkeit löste eine starke und anhaltende Woge widersprechender Leserbriefe und Stellungnahmen aus. Die Anlage eines künstlichen Kiefernwaldes wurde von der Bürgerschaft in seltener Einmütigkeit abgelehnt.
Kontroverse Ansichten zum „Märchenwald“ am Brüder-Grimm-Platz
Die Kontroverse findet inzwischen publizistischen Niederschlag weit über Kassel hinaus. „Märchenhaft – oder einfach Kitsch“ titelte die Süddeutsche Zeitung in einem Bericht. Damit steht in Kassel nach kontroversen Diskussionen um die Zukunft der Markthalle, die von Privatinvestoren nachhaltig umgestaltet werden soll, und nach einer erratischen Debatte um die – gemäß des Willens der Stadt Kassel – gescheiterte Planung zum Standort für den Neubau des documenta-Instituts angrenzend an den Karlsplatz eine dritte stadtbildprägende Maßnahme vor der Tür. Zur Gestaltung des Brüder-Grimm-Platzes gemäß ausgewähltem Architektenentwurf wurden zahlreich Widerspruch und Gegenreden vorgetragen.

Leonhardt hat Fotografien von unterschiedlichen Aufnahmestandpunkten gemacht
Womöglich kann zu diesen Fragen und Ansichten ein Blick zurück andere und zusätzliche Sichtweisen vergegenwärtigen. Es könnten sich dabei Betrachtungen und vorgetragene Argumente der Diskussionen in Kassel bestätigen. Vom Fotografen Leonhardt sind Fotografien überliefert, die verschiedene Perspektiven zum oder vom Brüder-Grimm-Platz zeigen. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als diese Aufnahmen entstanden, hieß der Platz noch „Wilhelmshöher Tor“, bezugnehmend auf die beiden Torhäuser rechts und links als Abschluß der fünf Kilometer langen schnurgeraden Allee nach Wilhelmshöhe mit Blickbeziehung hinauf zum Herkulesbauwerk.

Das bereits oben gezeigte Foto mit Blickrichtung zur Innenstadt veranschaulicht die städtebauliche Gelenkstelle, die der Brüder-Grimm-Platz für Kassel markiert. Dort endet die dicht bebaute Innenstadt. Dort öffnet sich die Stadt zur Landschaft mit dem Habichtswald als markanten Höhenzug. Verbindung schafft die Wilhelmshöher Allee via Straßenbahn. Dass dieser Bereich ausgeprägten urbanen Charakter birgt, veranschaulicht der Fotograf mit ebenso exakt wie kunstvoll platzierten Figuranten. Insbesondere die beiden parlierenden Herren mit Hut und Stock strahlen dabei Gelassenheit und zugleich gewisse Weltläufigkeit aus.

Was bedeuten die historischen Fotografien in gestalterischer Hinsicht?
Laubbäume gehören zum Gepräge der städtebaulichen Situation als Schnittstelle von Oberer Königsstraße und Wilhelmshöher Allee. Diese funktionale und visuelle Gelenkstelle zwischen Innenstadt und Außenbereichen und Weinberg wurde wesentlich geprägt von Bäumen.

Hauptmerkmal war gleichermaßen Weitläufigkeit und Einheit. Der Blick in die Obere Königsstraße und die unverstellte Sichtbeziehung aus der Oberen Königsstraße waren grundlegende städtebauliche Merkmale.

Ob der doppelte Bruch des Entwurfs der Landschaftsarchitekten Club L94 – mit verdichteter Baumplatzierung im Zentrum statt verteilt an Randbereichen und mit Kiefern anstelle von Laubbäumen – eine adäquate und den Anliegen gemäße Lösung zur Platzumgestaltung leisten würde, kann als Frage bei Kenntnis der historischen Fotografien von G. F. Leonhardt erneut aufgeworfen werden. Bäume gehörten fraglos dazu am Brüder-Grimm-Platz.

Sie waren als arrondierende organische Bestandteile in den Randbereichen platziert. Das lässt sie als organische Teile eines das Stadtbild prägenden Platzes zugehörig wirken. In dem Wettbewerbsentwurf will die Baumanpflanzung eine künstliche Insel schaffen, von der das Ensemble und die Einheit des Platzes zerteilt und aufgehoben wird.